Die Ergebnisse der Hirnforschung zu menschlichen Wahrnehmungsprozessen sind in vielerlei Hinsicht zunächst befremdlich. Sie scheinen kaum zu unserer alltäglichen Erfahrung mit der Wahrnehmung der Welt zu passen.
Die Nicht-Existenz von Detektorneuronen scheint sogar im Widerspruch zu unserem Empfinden zu stehen: Wenn es keine Detektorneuronen, keine Objekterkennungsneuronen, gibt, dann kann ich die Rose in meinem Garten nicht als ein ganzes Objekt erkennen. Es gibt in meinem Gehirn kein ``Rosenerkennungszentrum'', das sofort Meldung gibt, wenn auf meine Augen die optischen Reize einer Rose auftreffen. Es gibt lediglich eine Vielzahl von Neuronenverbänden, die bestimmte Eigenschaften der Rose, wie Form, Farbe, Bewegung, Vorder- und Hintergrund, usw. unabhängig erkennen.siehe
Wie paßt dies zu der Tatsache, daß ich die Rose als ein Objekt - als ein Ganzes - und nicht als Vielzahl unterschiedlicher Reize wahrnehme? Gerhard Roth formuliert dies als die Frage nach der Einheit der Wahrnehmung.siehe
Die Antwort auf diese Frage scheint mir für viele Lernprozesse sehr wichtig zu sein, insbesondere bietet sie eine Möglichkeit, das Lernen durch Verfremdung zu verstehen. Es ist die Erfahrung, die die Einheit der Wahrnehmung herstellt.
Roth unterschiedet hierbei zunächst zwischen der Vorerfahrung des kognitiven Systems, die aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung unseres Gehirns resultiert, und den ``neu erworbenen Erfahrungen im Umgang mit der Welt und mit uns selbst.''siehe
Die Frage nach den präkognitiven, automatisierten Wahrnehmungsgesetzen wurde von der Gestaltpsychologie untersucht. Dort wurden verschiedene Gesetze formuliert, denen unsere Wahrnehmung folgt. In diesem Zusammenhang lautet eine zentrale Frage:``Wie werden lokale Details zu einem sinnvollen Ganzen zusammengestellt?''
Ein Beispiel für die Funktionsweise eines dieser Gesetze ist in Abbildung 2 zu sehen. Wir nehmen Punkte, die räumlich nahe beieinander liegen, als zueinander gehörig wahr, auch wenn wir über den tatsächlichen kausalen Zusammenhang nichts wissen.siehe
Abbildung: Räumliche Nähe und kausaler Zusammenhang
Neben den präkognitiven Vorerfahrungen unseres Gehirns sind die Erfahrungen, die wir mit uns und unserer Umwelt machen, wichtig, um die Einheit der Wahrnehmung zu gewährleisten.
Als Beispiel hierfür möchte ich das Betrachten von Abbildung 3 beschreiben.siehe
Ohne die Möglichkeit auf Erfahrung zurückzugreifen, kann die Bedeutung des Bildes nicht wahrgenommen werden. Es handelt sich nur um eine Ansammlung schwarzer Punkte und Linien.
Der Hinweis, daß auf dem Bild eine Kuh dargestellt ist, ermöglicht es, einem Beobachter das Bild mit einer Erfahrung, einem Gedächtnisbild, zu verknüpfen. Erst jetzt kann er das Objekt erkennen, es mit einem Bild in seinem Gedächtnis abgleichen.
Gerhard Roth schließt daher:
``Gedächtnis ist das Bindungssystem für die Einheit der Wahrnehmung, und zwar für alle diejenigen Wahrnehmungsinhalte, die nicht bereits durch die Konstruktion der Sinnesorgane und die phylogenetisch erworbenen Mechanismen zusammengefügt werden [...], sondern deren Zusammengehören frühkindlich oder im Erwachsenenalter erlernt werden muß.''siehe