Wie ist der Zusammenhang zwischen der Welt außerhalb meines Körpers, der Realität, und meines Eindrucks von der Realität, meiner Wirklichkeit? Dies ist die Frage danach, wie unsere Wahrnehmung funktioniert. In jüngster Zeit gibt es einige wichtige Ergebnisse der Neurobiologie, die Hinweise zur Beantwortung dieser Frage geben.
Lernen ist eine Form der Auseinandersetzung mit der Realität. Die neurobiologischen Ergebnisse können somit Aussagen über menschliche Lernprozesse machen.
In diesem Abschnitt werde ich einige Ergebnisse auflisten, die zu einem konstruktivistischen Wahrnehmungsbegriff führen. Eine fundierte Darstellung der Ergebnisse und den daraus resultierenden Wahrnehmungsbegriff findet man in dem oben erwähnten Buch von Gerhard Roth.
Die Nervenzellen unseres Gehirns sind unempfindlich für die meisten physikalischen und chemischen Reize der Außenwelt. Als Vermittler zwischen diesen Reizen und den Neuronen des Gehirns dienen Nervenzellen, die die Reize in die Sprache des Gehirns, in chemische und elektrische Signale, umsetzen.siehe
Diese Umsetzung ist jedoch keine Eins-zu-eins-Umsetzung. Ein Reiz wird meist von einer Vielzahl von Nervenzellen erkannt und an das Gehirn gemeldet.
Die Signale der Nervenzellen sind nicht reizspezifisch. Signale, die von einem optischen Reiz stammen, können nicht von denen eines akustischen Reizes unterschieden werden:
``Es bleibt anhand dieser Merkmale [der Signale, die die Nervenzellen senden (Müller)] unentscheidbar, ob es sich etwa um visuelle oder auditorische Erregung handelt, um Farb-, Form- oder Bewegungserkennung innerhalb des visuellen Systems usw.''sieheWesentlich für die Modalität eines Reizes ist der Verarbeitungsort innerhalb des Gehirns. Ein Signal, das im virtuellen Cortex aufläuft, wird als Bild empfunden, unabhängig davon, ob es von einem Bild stammt oder nicht.siehe
Die Untersuchungen der Neurobiologen zeigen, daß Objekte aus unserer Umwelt nicht von einem Neuron erkannt werden. Es gibt keine Detektorneuronen für bestimmte Objekte.siehe Vielmehr werden schon so einfache Signale wie Farbe von einer Vielzahl von Neuronen erkannt.siehe Der eindeutige Sinneseindruck entsteht dann durch ein In-Bezug-setzen der Aktivität von verschiedenen Neuronenverbänden:
``Eindeutigkeit erlangt das Gehirn erst durch die Auswertung der relativen Aktivität verschiedener phasisch und tonisch antwortender Zellen innerhalb eines Netzwerkes.''siehe
Die neurobiologischen Ergebnisse weisen darauf hin, daß Wahrnehmung kein passives Konsumieren von Reizen aus der Realität ist. Wirklichkeit wird in unserem Gehirn konstruiert. Die Reize, die unser Gehirn von den Sinnesorganen erhält, sind nicht eindeutig. Erst durch eine Bewertung innerhalb eines Systems von Neuronen wird ein Sinneseindruck konstruiert.
Bei dieser Konstruktion von Wirklichkeit benutzt unser Gehirn bestimmte Techniken, um die Vielfalt der Reize, die auf uns einfluten, effizient umzusetzen. Die Frage danach, wie eine Flut von Signalen verwaltet werden kann, ist eine Frage, die sich im Rahmen der Informationstheorie beantworten läßt.
Ein Prinzip, das in der Redundanztheorie des Lernens formuliert wurde, die Bildung von Superzeichen, scheint mir dabei umgesetzt zu werden. Um dies klar formulieren zu können, möchte ich aber vorher noch auf die Rolle der Erfahrung bei der Wahrnehmung eingehen.