Kinder staunen über die Welt. Das Staunen resultiert aus der Unbekanntheit der Objekte und der Zusammenhänge der Welt. Dieses Staunen, das Wundern über die Vielgestaltigkeit der Umwelt, und die dem Menschen angeborene Neugier läßt Kinder die Welt entdecken. Die sich selbst gestellten Fragen nach dem ``Wie?'' und ``Warum?'' scheinen mir die wichtigste und fruchtbarste Motivation für das Lernen zu sein.
Durch die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens in der Welt sammeln, geht das Wundern zu einem großen Teil verloren. Wir setzen uns nicht mehr mit den Objekten auseinander. Martin Wagenschein zitiert Max Picard:
``Das charakterisiert den Menschen von heute: Es findet keine Begegnung mehr statt zwischen ihm und dem Objekt, es ist kein Geschehnis mehr, ein Objekt vor sich zu haben, man hat es schon, ehe man danach gelangt hat, und es verläßt einen, ehe man es entläßt. - Man kommt zu den Objekten nur auf Umwegen, indirekt, provisorisch, approximativ, unverbindlich, das heißt, man kommt gar nicht zu den Objekten, sondern ... sie werden einem geliefert. Es ist alles, wie schon vor-geschehen ... . Alle Objekte scheinen zu einer ungeheuren Erledigungsmaschinerie zu gehören, der Mensch ein Teil von ihr: die Stelle, an der das Erledigte abgeliefert wird. - Der Sinn einer Begegnung aber ist, dem Objekt, das vor einem ist, Zeit, und das heißt Liebe, zu geben.'' sieheWie können wir diese Erledigungsmaschinerie sabotieren? Wie können wir die Begegnungen mit den Objekten wieder zu etwas besonderem machen? Wie können wir den Objekten wieder etwas erstaunliches geben? Martin Wagenschein sagt dazu:
``Wie aber, kann man einwenden, soll [...] die Zündung, die Empfängnis, vor sich gehen, wenn das Kind schon ``weiß'', [...]? In diesem heute kaum vermeidlichen Fall bewährt sich der Frontalangriff auf das Scheinwissen (aber ohne Ironie!)``sieheDie Verfremdung eines bekannten Objektes kann eine Möglichkeit sein, um diesen Frontalangriff zu führen, um das Scheinwissen als ein solches zu entlarven. Wir werden gezwungen, dem Objekt wieder Zeit zu widmen, es neu kennenzulernen, ihm neu zu begegnen.
Zum aktuellen Zeitpunkt scheint mir ein zweiter Aspekt wichtig zu sein: Wenn wir den Medien glauben, leben wir in einer Informations- und Wissensgesellschaft. Jeder einzelne von uns kann im Prinzip auf einen riesigen Vorrat von Information zugreifen. Dadurch müßten doch die Möglichkeiten der Menschen um ein Vielfaches potenziert sein. Ist dies wirklich so?
Nun, das ist leider nicht der Fall, denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Wissen und Information. Information kann zu Wissen werden, wenn sie in einen Zusammenhang zu schon vorhandenem Wissen eingesetzt wird, wenn sie in ein bereits bestehendes Netz von Wissen eingewoben wird, wenn Querverbindungen geschlossen werden. Eine Information ohne Bezug zu vorhandenem Wissen ist wertlos.siehe
Um diese Querverbindungen schließen zu können, ist es wichtig, das bereits Bekannte neu zu bewerten - die Perspektive zu wechseln - damit neue Assoziationen im Geflecht des Wissens geknüpft werden können. Die Verfremdung eines Objekts zwingt uns zu einem solchen Perspektivwechsel.
Vieles, das wir als vertraut und bekannt ansehen, sind nur Hypothesen, Vorurteile und Gewohnheiten. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, wir sehen im wesentlichen unsere Erfahrung mit den Objekten.siehe
Eine Möglichkeit, die aus den Wahrnehmungsroutinen resultierenden Hypothesen über die Welt zu erschüttern, besteht darin, sich die Welt fremd zu machen, die glatte Realität aufzurauhen, um sich an ihrer rauhen Struktur abarbeiten zu können. Dadurch haben wir wieder die Möglichkeit zu staunen und anschließend das scheinbar Bekannte auf eine andere, erhellende Art kennenzulernen. In diesem Sinne ist die Verfremdung eines Objektes ein Aufrauhen der Realität, die Welt wird entselbstverständlicht.
Berthold Brecht beschreibt den Akt der Verfremdung wie folgt:
``Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, den Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen''sieheWir erarbeiteten im Kolloquium anhand verschiedener Beispiele, wie man die Welt verfremden, wie man sie entselbstverständlichen kann.