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Fragmentierung

  Bei der Fragmentierung eines Objektes wird dieses verfremdet, indem nicht das ganze Objekt gezeigt wird, sondern lediglich ein Detail - ein Fragment. Diese Bruchstückhaftigkeit zwingt den Beobachter, über den Zusammenhang des Fragments zum Ganzen nachzudenken, um den fehlenden Teil aus dem Detail zu erschließen.

Als erstes Beispiel für Fragmentierung zeigte Prof. Rumpf uns zwei Details aus einem Gemälde. Wir konnten nur diese Details sehen, der Rest des Bildes blieb uns verborgen. Wir versuchten, die Details und deren Zusammenhang zu dem ganzen Bild zu ergründen. Dazu benutzten wir alle Informationen, die uns durch das Fragment zur Verfügung standen (Farbwahl, Pinselführung, Licht, Mimik und Dynamik dargestellter Figuren, usw.).

Anschließend zeigte Prof. Rumpf uns das ganze Gemälde von Caspar David Friedrich, auf dem eine Szene vor dem Rügener Kreidefelsen zu sehen war. Wir stellten fest, daß wir die zuvor untersuchten Details nicht so intensiv wahrgenommen hätten, wenn wir von Beginn an das ganze Bild gesehen hätten.

Um ein weiteres Beispiel eines Fragments zu konstruieren, las Prof. Rumpf uns eine zufällige Passage aus Walter Kempowskis Roman ``Das Echolot''siehe vor. Hierzu ließ er sich von den Zuhörern eine zufällig gewählte Seitenzahl und eine ebenfalls zufällige Anzahl von zu lesenden Zeilen sagen. Die Zuhörer kannten weder den Titel noch den Autor, aus dessen Werk das Fragment stammte.

Ähnlich wie bei den Details aus dem Bild von Caspar David Friedrich versuchten wir, aus dem Fragment auf das Ganze zu schließen. In dem Abschnitt wurde ein Teil einer Kriegsszene an vorderster Front erzählt. Wir versuchten, alle Details des Fragments zu berücksichtigen, um auf den Autor, die Zeit der Geschichte, die Art des Textes usw. zu schließen. Es gab erstaunliche vielgestaltige Gedankenverknüpfungen.

Ein weiteres Beispiel wurde von einer Teilnehmerin des Kolloquiums geliefert. Sie beschrieb ein Kunstwerk, das sie in einem New Yorker Museum gesehen hatte. Es handelte sich um ein massives, kreisrundes Stück, das aus der Zimmerdecke eines mehrstöckigen Wohnhauses ausgeschnitten worden war und nun als Exponat im Museum lag. An der Unterseite des Exponats war die Decke der unteren Wohnung zu erkennen, auf der Oberseite sah man den Fußboden der oberen Wohnung. Zwischen den beiden Begrenzungsschichten konnten die verschiedenen, normalerweise verdeckten Bauschichten gesehen werden.

Die Studentin beschrieb, wie intensiv der Eindruck dieses Fragments gewesen sei. Zum Einen sei der Ort - ein Museum für moderne Kunst - an dem sich dieses Alltags-Objekt befunden habe befremdlich gewesen. Andererseits habe sie sich sofort gefragt, wie das Haus, aus dem das Stück stammte, aussah, welche Menschen in den Wohnungen gewohnt haben und wie es zu den an Decke und Boden erkennbaren Details gekommen sei.

Durch die Verfremdung, durch das Herauslösen eines Fragments aus dem Ganzen, habe sie Assoziationen bilden können, die sie beim Betrachten des ganzen Hauses oder der Wohnung nicht gehabt hätte.

Ein weiteres Beispiel für Verfremdung durch Fragmentierung habe ich in Abschnitt 2.2 beschrieben.


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Mon Nov 13 01:02:36 CET 2000