Inhalt
Next: Wahrnehmung
als subjektive Konstruktion Up: Beiträge der Neurobiologie zum Previous:
Verarbeitungsorte von
Signalen und
Ein weiteres, wichtiges Ergebnis der neurobiologischen Forschung ist, daß es keine Detektorneuronen gibt. Das bedeutet, daß es auch bei weitaus weniger komplexen Gehirnen als dem unseren, keinen Neuronen gibt, die das Auftreten eines Objektes als Ganzes codieren. Es sind stets Netzwerke von Neuronen, die verschiedene Aspekte eines Objektes miteinander in Bezug setzen.
Als ein experimenteller Nachweis der Existenz solcher unabhängigen Elementarereignisse kann eine Wahrnehmungsstörung angesehen werden, die auftritt, wenn bestimmte Hirnregionen geschädigt sind. Patienten mit dieser Störung können zwar die Bewegung eines Objektes, nicht aber seine Form erkennen.siehe
Wahrnehmung ist also stets ein konstruktiver Vorgang. Die Objekte der realen Welt werden anhand von Elementarereignissen wie Form, Farbe, Größe oder Bewegung von verschiedenen neuronalen Netzwerken codiert und dann in unserem Gehirn wieder zu einem ganzen Wahrnehmungsinhalt zusammengesetzt. Dabei werden viele Eigenschaften der Realität nicht berücksichtigt. Wir verfügen zum Beispiel über kein Sinnesorgan, das Reize im Ultraschall wahrnimmt. Andere Eigenschaften werden von unserem Gehirn hinzugefügt. So ist zum Beispiel das räumliche Sehen ein Konstrukt unseres Gehirns, denn weit entfernte Objekte sind nicht tatsächlich kleiner als nahe Objekte.siehe
Das Erfassen der realen Welt als Summe von Elementarereignissen steht jedoch offenbar in krassem Widerspruch zur subjektiven Einheit der Wahrnehmung. Wir sehen schließlich einen roten Stuhl nicht als Summe von Ort, Vorder- und Hintergrund, Farbe, Form, Bedeutung usw., sondern als ein ganzes wahrgenommenes Objekt. Wie kommt es zu dieser Einheit der Wahrnehmung? Es ist, so der Neurobiologe Gerhard Roth, die Erfahrung, die die Einheit der Wahrnehmung herstellt.
Er unterschiedet hierbei zunächst zwischen der Vorerfahrung des kognitiven Systems, die aus der stammesgeschichtlichen Entwicklung unseres Gehirns resultiert, und den ``neu erworbenen Erfahrungen im Umgang mit der Welt und mit uns selbst.''siehe
Die Frage nach den präkognitiven, automatisierten Wahrnehmungsgesetzen wurde von der Gestaltpsychologie untersucht. Dort wurden verschiedene Gesetze formuliert, denen unsere Wahrnehmung folgt. In diesem Zusammenhang lautet eine zentrale Frage:``Wie werden lokale Details zu einem sinnvollen Ganzen zusammengestellt?''
Ein Beispiel für die Funktionsweise eines dieser Gesetze ist in Abbildung 5 zu sehen. Wir nehmen Punkte, die räumlich nahe beieinander liegen als zueinander gehörig war, auch wenn wir über den tatsächlichen kausalen Zusammenhang nichts wissen.siehe
Abbildung: Räumliche Nähe und kausaler
Zusammenhang
Neben den präkognitiven Vorerfahrungen unseres Gehirns sind die Erfahrungen, die wir mit uns und unserer Umwelt machen, wichtig, um die Einheit der Wahrnehmung zu gewährleisten.
Als Beispiel hierfür möchte ich das Betrachten von Abbildung 6 beschreiben.siehe Ohne die Möglichkeit auf Erfahrung zurückzugreifen, kann die Bedeutung des Bildes nicht wahrgenommen werden. Es handelt sich nur um eine Ansammlung schwarzer Punkte und Linien.
Abbildung 6: Was ist das?
Der Hinweis, daß auf dem Bild ``Gaay'' abgebildet ist, ermöglicht es einem Beobachter, der Hindi versteht, das Bild mit einer Erfahrung, einem Gedächtnisbild, zu verknüpfen. Dies zeigt auch eine kulturelle Abhängigkeit, denn einem Beobachter, der nur Deutsch spricht wird stattdessen das Wort ``Kuh'' die Möglichkeit geben, auf seine Erfahrung zurückzugreifen.
Gerhard Roth schließt daher:
``Gedächtnis ist das Bindungssystem für die Einheit der Wahrnehmung, und zwar für alle diejenigen Wahrnehmungsinhalte, die nicht bereits durch die Konstruktion der Sinnesorgane und die phylogenetisch erworbenen Mechanismen zusammengefügt werden [...], sondern deren Zusammengehören frühkindlich oder im Erwachsenenalter erlernt werden muß.''siehe
Eine genauere Betrachtung zeigt, daß unsere Wahrnehmung so konzipiert ist, daß wir bereits anhand weniger Details auf in unserem Gedächtnis abgelegte Muster zurückgreifen können. Dabei können Objekte umso schneller und mit weniger Eckdaten erkannt werden, umso vertrauter sie sind: ``Je vertrauter mir eine Situation oder Gestalt ist, desto weniger ``Eckdaten'' benötigt mein Wahrnehmungssystem, um ein als vollständig empfundenes Wahrnehmungsbild zu erzeugen, das zu diesen Eckdaten paßt.''siehe
Viele Details werden bei bekannten Objekten gar nicht wahrgenommen. Dies wird deutlich, wenn man sich an Situationen erinnert, in denen man bei wohlbekannten Menschen Veränderungen, wie ein neue Frisur oder eine anderr Brille gar nicht wahrgenommen hat. Man hat die Person anhand weniger Eckdaten mit einem Gedächtnsibild abgeglichen, ohne alle Details zu betrachten.
In diesem Sinne sind unsere Wahrnehmungen immer auf Erfahrungen beruhende Hypothesen über unsere Umwelt.
Inhalt
Next: Wahrnehmung
als subjektive Konstruktion Up: Beiträge der Neurobiologie zum Previous:
Verarbeitungsorte von
Signalen und