Wie versteht ein Mathematiker?


- Versuch einer Metapher -

Axel Müller

Der Auslöser für diesen Text, der in sehr subjektiver Weise erläutern soll, wie ich das Verstehen einer mathematischen Theorie sehe, war ein Gespräch mit einem Nachbarn, der sich aus erziehungswissenschaftlicher Sicht mit dem Begriff des Verstehens beschäftigt.

Im Laufe des Gesprächs gebrauchte ich eine Metapher, die ich einige Jahre zuvor mit meinem Freund Lars Kauffmann entwickelt hatte, die das Betreiben von Mathematik beschreibt. Unter Verwendung dieser Umschreibung erzählte ich ein wenig über meine Erfahrungen im Umgang mit mathematischen Theorien. Da ich meinen Gesprächspartner nicht mit ungefilterten und unverständlichen Eindrücken aus meinem Mathematikstudium versehen wollte, habe ich meine Gedanken etwas geordnet und hier niedergeschrieben.

Die Objekte der Mathematik lassen sich nur selten im wörtlichen Sinne begreifen. Ein grundsätzlicher Wesenszug der Mathematik besteht in der Abstraktion. Als Geburtsstunde der Mathematik wird meist der Punkt genannt, an dem im antiken Griechenland Geometrie betrieben wurde, indem man sich nicht mehr mit einem konkreten Dreieck befasste, sondern Aussagen über alle Dreiecke, oder zumindest eine gewisse Klasse an Dreiecken, traf. Dazu war es zwingend notwendig, eine abstrakte Idee von einem Dreieck zu entwickeln.

Auch wenn ein Mathematiker ein konkretes Problem, das außerhalb der Mathematik auftritt, bearbeitet, enwickelt er in einem frühen, wesentlichen Schritt seines Lösungsverfahrens ein mathematisches Modell. Er reduziert den zu untersuchenden Zusammenhang auf die Komponenten, die wesentlich zu sein scheinen und bildet diese durch einen mathematischen Formalismus ab. Fortan betreibt er dann Mathematik innerhalb dieses abstrakten Modells. Das mathematische Verstehen kann also meist kein sinnliches Erfahren sein, wenngleich Bilder und Simulationen ein willkommenes Werkzeug sind, um die Gedanken bildlich zu gestalten.

Mathematik spielt sich also nur in den Köpfen derer ab, die Mathematik betreiben. Außerdem steht ihr, anders als den Naturwissenschaften, nicht das Experiment als letzte Entscheidungsinstanz zur Verfügung. Sie kann und muss sich nicht direkt an der erfahrbaren Realität messen, sondern nur an der Denkbarkeit ihrer Aussagen innerhalb der Spielregeln der Mathematik. Daß sie dabei nicht in eine subjektive Beliebigkeit verfällt, sondern sehr strenge Aussagen macht, die über individuelle und kulturelle Schranken hinweg diskutiert und aktzeptiert werden können, liegt an ebendiesen Spielregeln.

Die Spielregeln der Mathematik legen einen strengen Formalismus fest, der es erlaubt, eine Aussage eindeutig als ``wahr'' oder ``falsch'' einstufen zu können. Diese Möglichkeit gibt es in den Naturwissenschaften prinzipiell nicht, denn dort werden Modelle aufgestellt, die nicht beweisbar sind, sondern nur durch experimentelle Ergebnisse gestützt oder gestürzt werden können. Aus der Existenz solcher unumstößlicher Wahrheiten in der Mathematik resultiert ein typischer Verständnisprozeß, für dessen Beschreibung ich eine Metapher einführen möchte, die ich zusammen mit Lars Kauffmann vor einigen Jahren entwickelt habe, als wir über das Wesen der Mathematik diskutierten.

Die Grundpfeiler einer mathematischen Theorie sind ihre Axiome, deren Zahl meist so eng wie möglich beschränkt ist. Die Axiome sind Aussagen, die garantieren, daß die im Rahmen der Axiome entwickelte Theorie ein gewisse Grundstruktur hat, sie für uns denkbar ist. So legen die Axiome von Peano durch wenige Regeln den Aufbau der natürlichen Zahlen fest und ermöglichen es, eine Addition innerhalb dieser Zahlen festzulegen, dergestalt, daß 1+1=2 ist. Durch die Axiome sind prinzipiell die Wahrheitsgehalte aller Aussagen innerhalb der Theorie festgelegt, wenngleich sie natürlich noch nicht bekannt sind footnote.

In der Metapher, mit der wir das Betreiben von Mathematik beschrieben haben, wird durch die Axiome eine komplexe, künstliche, mathematische Landschaft erzeugt. Mit der Aufstellung der Axiome ist diese Landschaft vollständig entwickelt, alle Objekte haben ihre wohlbestimmte Form und einen festen Ort. Wir kennen die Objekte und ihren Ort allerdings noch nicht, wir wissen nicht, welche Aussagen innerhalb der Theorie wahr sind und wie der Zusammenhang zwischen den Aussagen ist. Die Hauptaufgabe des Mathematikers besteht nun in der Erforschung dieser Landschaft, also darin, die wahren Aussagen der Theorie zu entdecken. Dies ist kein mechanischer Vorgang in Buchhaltermanier, kein Beweisen am Fließband, sondern durchaus ein leidenschaftliches Forschen, geprägt von der Neugier, immer neue Aspekte der Landschaft zu entdecken, ihre Geheimnisse zu erkunden.

Neben den Axiomen sind die Definitionen, die Sätze und ihre Beweise die wesentlichen Bausteine einer mathematischen Theorie. Die Definition strukturiert die Theorie, indem sie wesentliche Objekte, die grundlegende Wichtigkeit für die Theorie haben werden, konstruiert. In der eingeführten Metapher erhalten die Objekte der Landschaft Namen. Man sagt, was ein Berg, ein Hügel, eine Lichtung ist. In der Geometrie ist etwa ein Kreis mit Mittelpunkt x und Radius r definiert als die ``Menge aller Punkte, die den Abstand r vom Punkt x haben''.
Eine Definition kann nur dann verstanden werden, wenn alle in ihr vorkommenden Begriffe bekannt sind. So ist in der obigen Definition nur dann klar, was ein Kreis ist, wenn die Begriffe ``Punkt'' und ``Abstand'' bekannt sind.footnote Die Kenntnisse aller Bausteine einer Definition garantieren jedoch keinesfalls das Verständnis der Definition, denn die Definition ist nicht nur eine Auflistung bekannter Begriffe, sondern sie strukturiert das Zusammenspiel mehrerer Komponenten.

Oft sind Beispiele zu einer Definition eine wichtiger Schritt zu ihrem Verständnis. Sie bieten eine Konkretisierung der definierten Objekte und können klarmachen, warum die definierende Eigenschaft wesentlich und grundlegend ist.
So zeigen Beispiele von Kreisen, daß die oben gezeigte Definition umfassend und frei von Redundanz ist. An ihnen erkennt man zum einen, daß die Definition eine Kreis vollständig festlegt (sofern Mittelpunkt und Radius angeben sind), und zum anderen keine unnötigen Forderungen gemacht werden, wie Farbe, Geschmack oder Lage im Raum. Die Definition eines Kreises ist eine genaue Festlegung des kreishaften. Der Wert der Beispiele liegt also darin, an ihnen die Tragfähigkeit und Stärke einer abstrakten Definition an konkreteren Objekten zu erkennen.

Das Wesen eines mathematischen Begriffes kann durch die stringente Definition in einer anderen Art verstanden werden, als es in anderen Gebieten möglich ist. Man kann nicht anderer Meinung darüber sein, ob etwas ein Kreis ist. Ein Objekt ist ein Kreis, wenn es alle in der Definition geforderten Eigenschaften erfüllt, erfüllt es die Eigenschaften nicht, so ist es kein Kreis. Basta!

Ein Satz ist eine Aussage, die sich in der Theorie machen läßt und deren Wahrheitsgehalt als wahr bekannt ist. Damit ist ein Satz unmittelbar mit einem Beweis verbunden. Ein Satz ist nur dann ein Satz, wenn es einen Beweis zu dem Satz gibt. Aussagen, deren Wahrheitsgehalt nicht bekannt sind, für die kein Beweis und kein Gegenbeweis existiert, sind Vermutungen.

Das Beweisen eines Satzes ist der Nachweis, daß die im Satz gemachte Aussage nicht gegen die Spielregeln verstößt, daß der Zusammenhang zwischen den Objekten, der im Satz festgestellt wird, aus den Axiomen, Definitionen oder schon bekannten Sätzen folgt. Ein Beweis ist das Protokoll einer Argumentationskette, die unter Verwendung bekannter Wahrheiten und erlaubter Spielregeln zeigt, daß die Aussage des Satzes wahr ist.

Oft wird die Aussage eines Satzes erst durch ihren Beweis verstehbar, denn ohne Beweis kann man die Aussage allenfalls glauben oder eine vage Idee für den Zusammenhang mit den anderen Objekten der Theorie haben. Im Beweis wird der logische Zusammenhang zu bekannten Wahrheiten geschlossen und somit die Aussage des Satzes in den Kontext mit anderen Aussagen und Objekten der mathematischen Theorie gestellt. Zu einem Satz gibt es durchaus eine Vielzahl von möglichen Beweisen, die sich mehr oder weniger unterscheiden können, je nachdem zu welchen schon als wahr bekannten Aussagen sie Zusammenhänge schließen.

In der erwähnten Metapher sind Sätze Aussagen über die Zusammenhänge in der mathematischen Landschaft, über die Lage eines Berges, eines Flusses oder eines Sees. Der Beweis eines Satzes besteht dann darin, aus den schon bekannten Objekten der Landschaft auf die Lage des im Satz beschriebenen Berges oder Flusses zu schließen. Verschiedene Beweise können sich auf verschieden bekannte Punkte in der Landschaft beziehen. Somit können verschiedene Beweise die Aussage des zu beweisenden Satzes verständlicher machen als ein einzelner Beweis, indem sie den Sachverhalt aus unterschiedlichen Richtungen beleuchten.

Dies sind die Grundbausteine jeder mathematischen Theorie: Axiome, Definitionen, Beispiele, Sätze und Beweise. Das Verstehen einer mathematischen Theorie ist immer mit dem Verstehen dieser Grundbausteine und ihres Zusammenspiels verbunden. Hinzu kommt, wenn die Mathematik Probleme aus anderen Disziplinen untersucht, ein mögliches Verstehen der nichtmathematischen Zusammenhänge dadurch, daß sie abstrahiert werden und so wesentliche Aspekte deutlicher und klarer erscheinen.

Ein entscheidender Faktor im Verstehen einer mathematischen Theorie besteht nun darin, daß man Objekte in anderen Kontexten wiedertrifft. Der obenbeschriebene Kreis ist durch seine Definition eng mit dem Begriff Abstand verbunden. Lernt man später dann andere Abstandsbegriffe kennen, so lernt man auch das Kreishafte in einer größeren Tiefe kennen, denn mit jedem neuen Abstandsbegriff ist eine neue Form des Kreises verbunden.footnote Allen Formen der Kreise ist aber das Kreishafte der Definition gemeinsam. Das Wiedertreffen von Objekten in anderen Kontexten und das daraus resultierende Verstehen ist also ein Akt des exemplarischen Lernens, wenngleich auf der Ebene hoher Abstraktion.

Durch diese wiederkehrende Begegnung mit mathematischen Objekten lernt man sie besser kennen, kennt ihre Lage in der mathematischen Landschaft immer genauer. Eine Faustregel unter Mathematikstudenten besagt, daß man den Stoff eines Semesters frühestens zwei Semester später versteht. Dies beschreibt gerade das Phänomen, daß Begriffe sich in ihrer tieferen Bedeutung erst in neuen Kontexten erschließen.

Hierin liegt, so meine ich, eine wesentliche Ursache für die Faszination, die Mathematik ausübt. Wenn man Mathematik betreibt, so ist man ständig bestrebt, Neues zu entdecken. Dies ist durchaus ein zeitraubender und anstrengender Prozess, doch das Ziel ist, einen neuen Zusammenhang in der mathematischen Landschaft zu sehen, den man noch nicht kennt. Oft erahnt man, wie die Teile der Landschaft zueinander in Verbindung stehen, doch mit dieser Ahnung ist ein Mathematiker nicht zufrieden, er will klar sehen.


Den Text gibt es hier als PDF-File.

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last change: 26-12-2001